August Sander – „Menschen des 20. Jahrhunderts“
Julian Sander, Urenkel des berühmten deutschen Porträtfotografen August Sander, präsentierte auf der Paris Photo 2024 erstmalig in Europa das vollständige Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Dieses ambitionierte Projekt umfasste die Hängung von 619 Fotografien – das gesamte Opus magnum von August Sander – zusammenhängend an einer einzigen 38,5 Meter langen Wand. Die Idee zu dieser außergewöhnlichen Ausstellung entstand aus Julian Sanders tiefem Wunsch, das Werk seines Urgroßvaters in seiner Gesamtheit erlebbar zu machen. „Die meisten Leute haben es nie gesehen, außer als Buch: ‚Menschen des 20. Jahrhunderts‘ “, erklärt Julian Sander. Im Buch jedoch, so Sander, könne man die Bilder nur sequenziell betrachten. Die Präsentation an einer einzigen Wand hingegen ermögliche es dem Betrachter, das Ganze als eine Einheit zu sehen und zu verstehen, wie groß es eigentlich ist.
Die Hängung: Ein Spiegelbild der Gesellschaft
August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ist ein ambitioniertes Porträt der deutschen Gesellschaft seiner Zeit. Vom Kaiserreich über zwei Weltkriege bis ins Nachkriegsdeutschland. Das früheste Bild entstand 1892, die letzte Aufnahme wurde 1954 gemacht. Sander kategorisierte seine Fotografien in sieben Hauptgruppen, die verschiedene soziale Schichten und Berufsgruppen repräsentieren, von Bauern über Handwerker und Künstler bis hin zu den „letzten Menschen“, wie er Beeinträchtigte, Gebrechliche und Kranke nannte.

Julian Sander entwickelte für die Ausstellung eine spezielle Hängung, die sowohl August Sanders Systematik respektiert als auch neue Perspektiven eröffnet. An einer 38,5 Meter langen und 3,68 Meter hohen Wand wurden die Bilder in der Reihenfolge der sieben Hauptgruppen des Buches in Spiralform gehängt, wobei zwischen jedem Portfolio eine Lücke gelassen wurde. Diese Lücken dienen nicht nur der optischen Auflockerung der Wand, sondern ermöglichen es Julian Sander auch, „Menschen in den vertikalen Achsen im Porträt zusammenzubringen, die in einer normalen Gesellschaft, in einer strukturierten Zusammenordnung nicht zusammenkämen“.
Die spiralförmige Anordnung der Fotografien um die zentrale Gruppe der Bauern veranschaulicht zudem August Sanders Vorstellung von der Gesellschaft. Sander sah den Bauern als den absoluten Kern, auf dem die gesamte Gesellschaft aufgebaut ist. Ohne Landwirtschaft, so Julian Sander, „gibt es keine Städte“. Ausgehend von der Mitte der Wand, wo die Fotografien des ersten Bandes, „Der Bauer“, platziert wurden, wickelt sich die Hängung spiralförmig nach oben rechts, wo das Werk mit der Totenmaske von August Sanders Sohn Erich endet. Diese besondere Systematik der Hängung ermöglicht es, das Werk an verschiedene räumliche Gegebenheiten anzupassen. So könnte die Spirale bei einer kürzeren Wand einfach höher geführt werden, wodurch sich neue zufällige Begegnungen ergeben würden.

Fünf Generationen Sander
Die Werkgruppe ist nicht nur das außergewöhnliche Lebenswerk eines Einzelnen, sondern ein wahrhaftiges Generationenprojekt, das über ein Jahrhundert hinweg von fünf Generationen seiner Familie getragen, gepflegt und weiterentwickelt wurde. Sein Sohn, Gunther Sander, führte das Werk weiter, indem er Texte schrieb, die die Fotografien ergänzten und kontextualisierten. Erste Teile des Werkes veröffentlichte er in den 1950er- und 1960er-Jahren. Aufgrund der noch immer präsenten Nachkriegszeit wurden jedoch bestimmte Teile der Gesellschaft – Juden, Fremdarbeiter und Nazis – in diesen frühen Publikationen ausgelassen.
Sein Enkel, Gerd Sander, trug maßgeblich zur wissenschaftlichen Erforschung des Werks bei. Mit der Gründung des August Sander Archivs 1984 in New York schuf er einen zentralen Ort für die Bewahrung und Erforschung der Fotografien. Sein Engagement führte dazu, dass die Werkgruppe in den internationalen Diskurs über Fotografie und Gesellschaft aufgenommen wurde. Im Jahr 2001 erschien schließlich „Menschen des 20. Jahrhunderts“ in seiner endgültigen Form, mit allen 619 Fotografien.
Julian Sander fühlt sich dem Werk August Sanders tief verbunden. Die Ausstellung auf der Paris Photo 2024 ist für ihn nicht nur eine Hommage an seinen Urgroßvater, sondern auch ein persönliches Statement. Julian Sander möchte mit der Präsentation des gesamten Werkes an einer einzigen Wand den Betrachtern die Möglichkeit geben, die Gesellschaft in ihrer ganzen Komplexität und Vielfalt zu erfahren. Schließlich ist auch die fünfte Generation in das Vermächtnis eingebunden. Sie half beim Aufbau der Ausstellung, wie sie auf der Paris Photo 2024 zu sehen war.
Ästhetik und Rahmung
Die sorgfältige Auswahl der Rahmen verstärkte die ästhetische Wirkung der Ausstellung zusätzlich. Julian Sander entschied sich für schlichte, mittelgraue DISTANCE-10-Alu-8-Magnetrahmen mit entspiegeltem Optium-Museum-Acrylglas. Diese zurückhaltende Rahmung lenkt den Blick auf die Fotografien selbst und vermeidet Ablenkungen. Der graue Farbton der Rahmen harmoniert mit den Grautönen der Fotografien und wirkt dadurch leichter und dezenter als Schwarz. Zudem erhöht er den Kontrast der nicht tiefschwarzen Fotos und erzeugt so einen harmonischen Gesamteindruck.
Mit dieser Entscheidung hob Sander jede der 619 Fotografien nochmals hervor. Durch das Mittelgrau der Rahmen entstand eine feine Abstufung zwischen den Farbtönen des Bildes, des Passepartouts, des Rahmens und den Zwischenräumen. Je nach Blickwinkel, Position des Betrachters, Tageslicht und Uhrzeit entstand so ein sich wandelnder, dunklerer Schattenbereich, der die Tiefe und Lebendigkeit der Fotografien unterstreicht. „Die Präzision spielte für mich auch eine wichtige Rolle. So eine Wand zu hängen, das ist eine Mammutaufgabe, wo ich für die Umsetzung überlegen musste, wie schnellkriege ich ein Bild präzise an die Wand.“ Für die Montage der 619 Bilder standen nur zweieinhalb Tage zur Verfügung.

Für die professionelle Wirkung der Hängung mussten alle Außenkanten fluchten, was eine spezielle Aufhängung erforderte. Dafür war es notwendig, dass die Rahmen im Außenformat identisch waren und sämtliche Aufhängepunkte absolut genau auf das Zehntel an der gleichen Position liegen. Für das schnelle Aufhängen und exakte horizontale Ausrichten wurden die Rahmen für eine spezielle Hängeleiste angepasst, in deren Nut die Rahmen eingesetzt wurden. Sander benutzte Schablonen, um sicherzustellen, dass die hölzernen Hängeleisten, die an der unteren, einmal per Laser ausgerichteten Reihe befestigt waren, immer den gleichen vertikalen Abstand zwischen den Bildern hatten. Mit zunehmender Übung konnte das Team die Hängezeit pro Bild auf 20 Sekunden reduzieren. „Das ging nur, weil jeder Griff, jedes Bauteil, jede Kleinigkeit hundertprozentig saß.“
Die Ausstellung „Menschen des 20. Jahrhunderts“ auf der Paris Photo 2024 war ein beeindruckendes Ereignis, das die fotografische und kuratorische Leistung von fünf Generationen Sander vereinte. Julian Sanders innovative Hängung eröffnete neue Perspektiven auf August Sanders Opus magnum und ermöglichte es dem Betrachter, die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen Komplexität und Vielschichtigkeit zu erleben.
Die sorgfältig ausgewählten Rahmen und die imposante Präsentation an einer einzigen Wand trugen maßgeblich zur Wirkung der Ausstellung bei. Die Ausstellung war nicht nur ein Highlight der Paris Photo, sondern auch ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des Werkes von August Sander und der deutschen Gesellschaft des vergangenen 20. Jahrhunderts.



