Emil Nolde entdecken: Ein Blick hinter die Kulissen

Das Jahr 1910 war für die Künstlervereinigung „Brücke“ von enormer Bedeutung. Denn ihre Ausstellung in der Galerie Arnold in Dresden im September des besagten Jahres dokumentierte einen veränderten Blick auf die Kunst – Gemälde und Rahmen als Einheit zu sehen. Schlichte Rahmenprofile ersetzten, bis auf wenige Ausnahmen, die pompösen Rahmen, die oft schwerer waren als die Kunstwerke selbst. Die neue Formensprache in der Malerei forderte auch eine neue Art der Rahmung. Emil Nolde beschrieb die vergoldeten Gipsrahmen einmal als „doch etwas verwerflich unechtes“. Und so kam es, dass sich die Künstler daranmachten, die Rahmen selbst zu entwerfen und zum Teil selbst zu bauen. Es entstand eine kompositorische Einheit, bei der Farbigkeit, Materialität und Herstellungstechnik der Rahmen mit den Gemälden verschmolzen und zu einem festen Bestandteil wurden. Immer im Sinne des Expressionismus und passend zur Idee des Bildes. Was für die Künstler unzertrennlich zusammengehörte, fand allerdings im Laufe der Jahrzehnte immer weniger Beachtung. Die schlicht gehaltenen Rahmen wurden sogar sehr häufig durch prunkvollere Rahmen ersetzt und auch im wissenschaftlichen Kontext erwähnte man sie oft gar nicht mehr.

Der Münchener Rahmenexperte Werner Murrer verschrieb sich diesen Rahmen und begann vor gut 30 Jahren, die Rahmen der „Brücke“- Künstler systematisch zu erfassen und vor dem Vergessen zu bewahren. Für diese Aufgabe recherchierten er und sein Team in unzähligen Archiven, Katalogen, Ausstellungen und erstellten u.a. eine Datenbank mit über 130.000 Fotos.

Die Kunsthistorikerin Astrid Becker ist stellvertretende Direktorin der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde. Wir sind mit beiden, anlässlich der 68. Jahresausstellung unter dem Titel: „Emil Nolde – Phantasien“ (Abb. S.16/17), auf Spurensuche zur neuen „Nolde-Leiste“ gegangen.

Astrid Becker als stellvertretende Direktorin
©Dirk Dunkelberg

Dr. Astrid Becker
Sie ist stellvertretende Direktorin der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, bewahrt, erforscht und vermittelt leidenschaftlich Noldes Werk.

Rahmenmacher Werner Murrer
©Werner Murrer

Werner Murrer
Er ist seit über 30 Jahren versierter und passionierter Rahmenmacher in München und gilt als der wichtigste Experte für Rahmen des Expressionismus.

Tipp:

WERNER MURRER RAHMEN auf der Suche nach originalen Rahmen auf Instagram:
@werner_murrer_rahmen

Was gab den Anstoß für die Nolde Stiftung Seebüll, neue Rahmen anfertigen zu lassen?

A.B.: Emil Nolde zählt zu den bekanntesten Expressionisten, der auch kurze Zeit Mitglied der Brücke war. Er betrachtete die Rahmen als einen integralen Bestandteil des Kunstwerkes, Bilder und Rahmen wurden zu einer unzertrennlichen kompositorischen Einheit. Die Nolde Stiftung Seebüll besaß seit Beginn einen umfangreichen Bestand an Wechselrahmen für Papierarbeiten. Allerdings waren diese schon viele Jahrzehnte im Einsatz und mittlerweile etwas in die Jahre gekommen. Wir wünschten uns einen Wechselrahmen, der praktikabler im Art Handling und sicherer für die Kunst ist und zugleich den „Geist von Nolde“ widerspiegelt.

Wie ist es zum Entwurf der Neuen „Nolde-Leiste“ gekommen?

A.B.: 2015 begannen die ersten Gedanken um neue Wechselrahmen zu kreisen. Durch Zufall entstand der Kontakt zu Werner Murrer, der sein Wissen rund um Nolde für eine Ausstellung vertiefen wollte und dafür unser Archiv aufsuchte. Wir kannten zwar Noldes typische Rahmen, wollten aber gerne Unterstützung von einem Experten für Expressionismus und Einrahmungstechnik.

W.M.: Ja, das stimmt. Ich war ein paar Mal in Seebüll und wir kamen ins Gespräch, wobei wir auch viel über die Rahmen gesprochen haben.

Welche Gedanken oder Recherchen waren dafür nötig?

A.B.: Uns war und ist es wichtig, dass jeder Zentimeter des Geländes in Seebüll den Geist von Nolde atmet. Auch beim Umbau des Nolde-Hauses legten wir viel Wert auf die ursprüngliche Entwurfsidee. Für die neue „Nolde-Leiste“ entwickelten wir gemeinsam mit Werner Murrer und unserem Schreiner Hans-Jürgen Christiansen einen Wechselrahmen, der die typischen Merkmale von Noldes Rahmen – das abgesetzte Profil und die markante Fase – aufgreift (Abb.01). Es galt, einen Expressionismus-Stil widerzuspiegeln und zugleich einen Rahmen zu entwerfen, der breit und hoch genug war, um die Kunstwerke angemessen zu schützen und zu präsentieren.

Originalgetreues Profil
Abbildung 1
©Nolde Stiftung Seebüll

W.M.: So entstand dann 2016 ein erster Entwurf, basierend auf unseren Recherchen rund um Nolde. Wir sammelten für die Ausstellung „Unzertrennlich“ über die Zeit viel Material und konnten darauf zurückgreifen, weshalb schnell ein passender Entwurf entstand. Die Zeichnung von der ersten Leiste basierte auf einem typischen Original-Rahmen (Abb.02 + 03). Markant und gleichzeitig schlicht – typisch für Nolde und den Expressionismus.

A.B.: Zum Glück konnten wir neben WERNER MURRER RAHMEN auch HALBE-Rahmen für unser Projekt begeistern. Die Integration eines HALBE-Rahmens als Innenrahmen ermöglicht eine wunderbare Verbindung zwischen der Ästhetik Noldes und den höchsten konservatorischen Standards. Denn das Prinzip, das sich schon im Munch-Museum in Oslo und im Van Gogh Museum in Amsterdam bewährt hat, schien uns für unsere Wünsche und Ansprüche bestens geeignet. Daher fiel unsere Entscheidung auf den CONSERVO-DISTANCE, weil die Einrahmung einfach in der Handhabung ist und es keinen direkten Kontakt zwischen Kunstwerk und Glas gibt. Spannend für uns war auch die Frage nach den idealen Größen. Emil Nolde schuf Arbeiten auf sehr unterschiedlichen Papierformaten, und die neuen Wechselrahmen sollten im Format alle Größen sinnvoll und überschaubar in der Anzahl abdecken können. Dafür analysierte unser Team den gesamten Bestand, was bei seinem Umfang durchaus eine Herausforderung war.

Orientierung am Originalrahmen
Abbildung 2
©Nolde Stiftung Seebüll
Planung der neuen Rahmen
Abbildung 3
©Nolde Stiftung Seebüll

Was ist das Besondere an den Rahmen?

A.B.: Das Schöne an den Wechselrahmen ist die Verbindung aus leichter und damit für das Kunstwerk schonender Handhabung und einer „Nolde-Leiste“. Wir müssen die Papierarbeiten nicht erst umständlich drehen oder wenden, sondern können alles gleich von vorne einlegen. Einrahmen, Glas einsetzen, sichern – fertig. Ebenso war uns auch die Ästhetik von Nolde wichtig. Abgedeckt wird der Innenrahmen von einem Blendrahmen aus Holz, der von unserem Schreiner Hans-Jürgen Christiansen (Abb.04) nach dem Entwurf von Werner Murrer angefertigt wurde und ganz im Sinne von Nolde ist. Aktuell sind die Zierrahmen aus Esche Natur, weil das Holz in seiner Farbigkeit dezenter wirkt (Abb.05). Unser umfassender Bestand an Papierarbeiten erfordert eine hohe Anzahl an Holzrahmen. Doch das schreckte unseren Herrn Christiansen nicht ab. Er sagte mir nur mit einem Lächeln: „Das kriegen wir schon zurecht.“

Schreiner Hans-Jürgen Christiansen
Abbildung 4
©Nolde Stiftung Seebüll
Zierrahmen in Esche natur
Abbildung 5
©Nolde Stiftung Seebüll

Wann wurden die neuen Rahmen zum ersten Mal gezeigt?

A.B.: Das umfangreiche Rahmen-Projekt wurde parallel mit der Sanierung des Nolde-Hauses realisiert. Die Sanierung fand von Januar 2020 bis August 2022 statt. Das Nolde-Haus wurde technisch ertüchtigt und behutsam auf die Bauschicht von 1937 zurückgeführt. Im August 2022 war das sanierte Nolde-Haus der Öffentlichkeit wieder zugänglich – ohne Kunst, es wirkte allein die Architektur. Im März 2023 präsentierten wir dann nicht nur die erste Kunstausstellung im sanierten Wohn- und Atelierhaus, sondern auch gleich die neuen Wechselrahmen. Die neuen Rahmen sind das i-Tüpfelchen für ein Nolde-Erlebnis im Gesamtkunstwerk Seebüll. Beides waren wirklich zwei besondere Momente für die Stiftung. Ich freue mich immer noch, dass sich alles im Geist von Emil Nolde zusammengefügt hat. Dieses Jahr werden die Wechselrahmen zum ersten Mal auch in den Leihverkehr gehen.

Wer die Einheit von Bild und Rahmen selbst bestaunen möchte, ist herzlich eingeladen, die 68. Jahresausstellung im Nolde Museum Seebüll, die vom 1. März bis zum 31. Oktober 2024 unter dem Titel „Emil Nolde – Phantasien“ (Abb.06) stattfindet, zu besuchen. Sie beleuchtet einen bisher wenig beachteten Aspekt des Schaffens des Künstlers. Im Fokus stehen seine spontan und unbewusst entstandenen Werke, in denen er kuriose und teilweise gespenstisch wirkende Geschöpfe auf Leinwand und Papier brachte. Nolde sah die Natur als belebt von phantastischen Wesen an und fand besonders im deutsch-dänischen Grenzland Inspiration für seine phantastischen Darstellungen. Die Ausstellung stellt diese Phantasiegestalten in einen Dialog mit Noldes berühmten Werken aus den Bildgattungen Blumengarten, Landschaft, Meeres- und Figurenbild. Besonders die späten „Ungemalten Bilder“ zeigen Noldes ungebändigte Kreativität und schließen den Kreis seiner phantastischen Werke.

Ausstellung „Emil Nolde – Phantasien“
Abbildung 6
©Nolde Stiftung Seebüll

Die Besucher sind eingeladen, sich ihren eigenen Träumen und Phantasien hinzugeben und Noldes Welt „jenseits von Regeln und kühlem Wissen“ zu erkunden. Durch etwa 120 Meisterwerke aus der Sammlung des Museums bietet die Ausstellung einen tiefen Einblick in Noldes Schaffen und unterstreicht die Relevanz seines Werks für die Gegenwart, insbesondere für Liebhaber von Fantasy-Welten.

Kontakt:

www.nolde-stiftung.de
Instagram: @nolde.museum.seebuell